VSM-Jahresrückblick 2022

Mittwoch, 28. Dezember 2022 - 11:00

 

Hamburg, Dezember 2022: In der Rückschau auf ein abgelaufenes Jahr entsteht eigentlich immer der Eindruck, es habe sich um ein bemerkenswertes, in vielerlei Hinsicht besonderes Jahr gehandelt – kein Wunder in unserer Branche, die sich ständig weiterentwickelt und in der es nie langweilig wird. 2022 hat uns allerdings eine Veränderungsdynamik beschert, die wir so seit langem nicht erlebt haben. Der Begriff, um den wohl kein Jahresrückblick herumkommt, lautet Zeitenwende. Er ist wenig überraschend das Wort des Jahres und es ist schon jetzt der Ausdruck, der unzertrennlich mit der Kanzlerschaft Olaf Scholz‘ verbunden ist.

Eine ganze Reihe von grundlegenden, recht bequemen Annahmen nicht nur deutscher Politik, sondern der ganzen Gesellschaft hielten der Realität nicht mehr stand. Für den erst wenige Wochen alten Koalitionsvertrag könnte man, zumindest in Teilen, einen Wegfall der Geschäftsgrundlage attestieren.

Die Konsequenz daraus formulierte der Bundespräsident in seiner Grundsatzrede am 28.Oktober 2022: „Es kommen härtere Jahre, raue Jahre auf uns zu. Die Friedensdividende ist aufgezehrt. Wir müssen konfliktfähig werden. Wir brauchen den Willen zur Selbstbehauptung.“ Diese Bewertung werden wohl viele nachvollziehen können. Die Bereitschaft, diese auch zu verinnerlichen, muss sich allerdings noch erweisen. 

An raue Zeiten musste sich die deutsche Schiffbauindustrie schon seit Beginn der Corona-Pandemie anpassen. Kaum eine andere Branche wurde so schwer getroffen wie der bis dato erfolgsverwöhnte Kreuzfahrtsektor. Das für den europäischen Schiffbau wichtigste zivile Marktsegment erlebte den schlagartigen Totalausfall. Den meisten Kreuzfahrtreedereien gelang es dennoch, am Kapitalmarkt ausreichend Liquidität zu beschaffen, um kostspielige Stornierungen bestellter Schiffe zu vermeiden. Die betroffenen Werften und Zulieferunternehmen reagierten auf den Nachfrageeinbruch mit einer Anpassung des Bauprogramms und der Suche nach neuen Marktsegmenten.

Für die Genting-Gruppe ließen sich die ausbleibenden Umsätze allerdings nicht mehr schultern. Und so wartete das Jahr 2022 gleich zu Beginn mit einem schweren Tiefschlag für den deutschen Schiffbau auf: Die vier großen Werftstandorte der Gruppe vermeldeten die Insolvenz. Die Nachricht erfolgte am Tag des Antrittsbesuchs des VSM bei der frisch ernannten Maritimen Koordinatorin der Bundesregierung, drei Tage nach ihrem Amtsantritt. Statt Ideen für die neue Legislaturperiode auszutauschen, stand nun die akute Lage im Vordergrund. Eine intensive mediale Begleitung des Desasters erwies sich als hilfreich, denn im Vordergrund standen überwiegend die nicht nur regionale Bedeutung des Schiffbaus und der große politische Handlungsbedarf. In dieselbe Kerbe schlug auch Wirtschaftsminister Habeck, der, anders als sein Vorgänger, einen starken persönlichen Bezug zur maritimen Wirtschaft mit ins neue Amt gebracht hatte. Viele der Themen, die der VSM schon seit längerem vorgetragen hatte, trafen nun auf offene Ohren. 

 

Allerdings sollte es nicht lange dauern, bis andere schlimme Nachrichten mit weit gravierenderen Auswirkungen alle Aufmerksamkeit auf sich zogen und selbst die immer noch grassierende Pandemie in den Hintergrund rückte. Tod und Verwüstung als Folge eines verbrecherischen Angriffskriegs kehrten zurück nach Europa. Die europäische Sicherheitsarchitektur stellte sich als Kartenhaus und Jahrzehnte der Friedensdividende als strategische Fehlwahrnehmung heraus.

Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers in der Sondersitzung des Deutschen Bundestages - drei Tage nach der russischen Invasion hallt weiterhin nach. Außer dem Schlagwort des Jahres ist den meisten Menschen wohl v.a. das €100-Milliarden-Sondervermögen für die Bundeswehr in Erinnerung geblieben. Ein Schock für einige. Ein Durchbruch aus der Sicht anderer. Der VSM wies früh darauf hin, dass angesichts der hohen kumulierten Einsparungen im Wehretat der zurückliegenden Jahre der Betrag bestenfalls bekannte Fähigkeitslücken der Bundeswehr adressiert, jedoch keineswegs eine Aufrüstung darstellt. Die Ergebnisse der Haushaltsberatungen für das kommende Jahr haben sich dann sogar als noch ernüchternder erwiesen. Gerade aus der Perspektive der Marine und ihrer Partner hat sich noch nicht sonderlich viel zum Besseren gewendet. Klar ist, die bestehenden Defizite sind nicht über Nacht zu beseitigen. Insofern bleibt die Hoffnung auf das Einlösen der zweiten Zusage des Bundeskanzlers: „Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.“ 2023, soviel scheint klar, wird Deutschland dieses Ziel wohl erneut deutlich verfehlen.

Leider beschränken sich die mittelbaren Auswirkungen des Krieges nicht nur auf den Rüstungsetat. Die umfangreichen Sanktionen waren umzusetzen und betrafen auch die maritime Industrie in vielfältiger Weise. Besonders gravierend waren die Folgen für Unternehmen im Yachtbau für russische Kunden. Nicht nur fiel ein wichtiger Kundenkreis buchstäblich über Nacht weg, es stellten sich auch komplizierte und kostspielige rechtliche Fragen: Was machen mit einem Schiff in der Werft, bei dem Leistungen nicht mehr getätigt und nicht mehr bezahlt werden dürfen, das jedoch Eigentum Dritter ist und Instand gehalten werden muss und das gleichzeitig die Anlagen der Werft für andere Kunden blockiert? 

Dafür haben im Verlauf der folgenden Monate andere Ereignisse etwas erreicht, was uns als maritime Community trotz intensiver Bemühungen in vielen Jahren der Arbeit nur unzureichend gelungen ist: Die strategische Bedeutung der maritimen Wirtschaft trat bundesweit ins öffentliche Bewusstsein. Plötzlich wurden maritime Bezeichnungen wie LNG-Tanker oder FSRU Teil der Allgemeinbildung. Die Sabotageakte an der unterseeischen Northstream Pipeline verdeutlichten, wie viel kritische Infrastruktur am Meeresboden zu finden ist, nicht nur für die Energieversorgung, sondern auch für globale Kommunikationsnetze. Die Menschen lernten, dass nur funktionsfähige Seewege den Export von Getreide aus der Ukraine ermöglichen können und dass davon die Grundversorgung von Millionen von Menschen in aller Welt abhängt. Und schließlich wurde eine vergleichsweise kleine Transaktion der Staatsreederei COSCO im Hamburger Hafen zum Symbol für den Ausverkauf kritischer Infrastruktur an China. Man darf gespannt sein, inwieweit diese wichtigen Ergebnisse haften bleiben und vor allem, inwiefern sie politische Rahmenbedingungen beeinflussen.

Die täglichen schlimmen Bilder aus dem Kriegsgebiet werden jedenfalls sicherheitspolitische Belange weiter hoch auf der Tagesordnung halten. Für die Anerkennung des Soldatenberufs und der Bedeutung der Bundeswehr wird dies sicher positive Auswirkungen haben. Anders als in der Vergangenheit finden eine gute Ausstattung der Bundeswehr und steigende Rüstungsausgaben jetzt die Unterstützung einer substanziellen Mehrheit der Bevölkerung. Als Industrie, die für die optimale Ausrüstung der Teilstreitkraft Marine erheblichen Anteil hat, begrüßen wir diese Entwicklung. Bedauerlicherweise kommt dabei die wichtige Rolle der Industrie in der öffentlichen Wahrnehmung leider immer noch zu kurz. Wünschenswert wäre, wenn Verantwortliche in der Politik aber auch bei den Streitkräften in aller Klarheit deutlich machten, dass effektive Streitkräfte nur mit einer effektiven heimischen Rüstungsindustrie möglich sind. Das Verständnis muss sein: Wir dienen Deutschland – gemeinsam!

Neben der akuten Konfliktlage mit Russland sind auch weitere geopolitische Spannung stärker in den Fokus gerückt. Dabei hat sich das Bewusstsein für Abhängigkeiten und welche Folgen sich daraus ergeben können geschärft. Dafür mussten nicht erst die rapide steigenden Energiepreise sorgen. Leidvolle Erfahrungen mit Lieferengpässen bei Konsumgütern ebenso wie bei Vorprodukten wie Mikrochips oder Pharmarohstoffen wurden auch schon vor Kriegsausbruch gemacht.

Vor diesem Hintergrund sind die Entwicklungen in China hochgradig Besorgnis erregend. Während viele Wirtschaftsakteure versuchen, möglichst lange ein Business as usual aufrecht zu halten, verfolgt die chinesische Staatsführung einen immer schärferen Kurs Richtung Systemrivalität. Die Verkündung der „grenzenlosen Partnerschaft“ mit Russland, was wenige Tage vor der Invasion der Ukraine wie eine Einverständniserklärung anmutete, markierte einen vorläufigen Höhepunkt. Die militärischen Muskelspiele in Sachen Taiwan, eine irrlichternde Corona-Politik und das „Volkskongress-Theater“ inklusive finaler Gleichschaltung des Politbüros sollten jedem klar gemacht haben, dass Abhängigkeiten insbesondere von Importen aus China blitzschnell fatale Folgen haben könnten. Die maritime Industrie spielt bei all diesen Entwicklungen eine zentrale Rolle. Die enormen staatlichen Mittel von über 200 Mrd. € zum Ausbau der chinesischen Schiffbauindustrie dienen auch militärischen Zielen. Es sind letztlich diese Subventionen, die Bestellungen genauso wie Technologietransfer aus Europa so attraktiv gemacht haben. Und immer noch machen: Laut Clarksons Research wurden 95% der Neubaubestellungen deutscher Reeder in den ersten 10 Monaten 2022 in China platziert.

Eine neue China-Strategie der Bundesregierung befindet sich in Arbeit. Auch die Europäische Union hat erste Maßnahmen auf den Weg gebracht, um schnell geeignete Antworten geben zu können, wenn China das nächste Mal ein EU-Mitgliedsland ökonomisch attackiert, wie im Falle Litauens geschehen. Die USA haben ihre Antwort in Form eines Inflation-Reduction-Acts bereits gegeben. Eine koordinierte gemeinsame Antwort des Westens wäre sicherlich effektiver gewesen. Jetzt wird die EU, vermutlich unter Gemaule nachziehen müssen.

Die EU hat uns 2022 vor allem auf dem Gebiet der Klimapolitik mit Arbeit eingedeckt. Taxonomie war das Stichwort, was unter den VSM-Mitgliedern am meisten Aufregung verursacht hat. Eigentlich soll die Taxonomie lediglich Berichtspflichten zu Nachhaltigkeitszielen für den Finanzsektor und Großunternehmen definieren – ein Riesenunterfangen mit enormen Auswirkungen, wie sich herausstellen sollte. Allein die Ankündigung von Vorüberlegungen, entsprechende Auflagen mit Bezug auf den Rüstungssektor in Erwägung zu ziehen, führte dazu, dass erste Kreditinstitute sich aus dem Markt verabschiedeten. Bei den technischen Kriterien im maritimen Bereich konnten mit viel Aufwand im Verlauf des Jahres zumindest einige handwerkliche Fehler korrigiert werden. Aber der Prozess bleibt mühsam. Für die maritime Energiewende ist der Nutzen jedenfalls nicht erkennbar. Den kann man dagegen von einigen der weiteren Maßnahmen durchaus erwarten. Von FuelEU Maritime zu Beispiel, das die Nachfrage nach regenerativen Kraftstoffen beleben wird. Auch der Einschluss der Schifffahrt in den Emissionshandel wird maritimen Klimaschutz beflügeln. Diese und weitere Instrumente sind nicht optimal und enthalten teilweise widersprüchliche Passagen. Klimaschutz und Transformation sind aber kein Sprint, sondern ein Marathon. Wir werden auch in den kommenden Jahren daran arbeiten, Schwachstellen nachzubessern. So wie wir es im Sommer dieses Jahres gemeinsam mit dem VDMA mit der Vorlage der PtX Roadmap für die Maritime Energiewende getan haben.

Während die Kraftstoff-Frage in der maritimen Community allenthalben diskutiert wird, kommt das Thema Effizienzsteigerungen oftmals zu kurz. Erneuerbare Kraftstoffe werden noch eine ganz Weile ein knappes Gut bleiben und damit teuer. Energie sparen nicht nur im Betrieb, sondern v.a. durch optimierte Technik muss darum viel stärker in den Vordergrund rücken.

Das ist auch nötig, weil ein anderer Aspekt der Energiewende bisher zu wenig zur Sprache kommt: Rohstoffknappheit. Der Bedarf an mineralischen Rohstoffen für die Produktion von Batterien, Generatoren, Elektrolyseuren, Brennstoffzellen etc. wird stark steigen. Erste Metastudien kommen zu dem Ergebnis, dass die heute bekannten Lagerstätten und Abbaumethoden an Land bei weitem nicht geeignet sind, den Bedarf zu decken. Dieses Ergebnis hat auch Bestand, wenn Recycling-Verfahren maximiert werden. Für die Schiffbauindustrie sind damit zwei Folgen absehbar: 1. Effizienz wird mehr denn je zum Schlüssel für Erfolg. 2. Die Nutzung von Rohstofflagern unter dem Meeresspiegel lassen einen neuen Markt entstehen. Gerade rechtzeitig haben vor diesem Hintergrund VSM und die Deep Sea Mining Alliance eine enge Zusammenarbeit auf den Weg gebracht.

Kräfte zu bündeln und gemeinsam konstruktive Lösungen zu entwickeln, ist unser Ansatz auch im Binnenschiffbau. Gemeinsam ist es gelungen, nicht nur das Förderinstrumentarium weiter zu stärken, sondern auch die technische Zusammenarbeit in unserem Elektromobilität-auf-dem-Wasser-Netzwerk voranzutreiben. Begeistert sind wir auch von dem Beschluss des Vereins der Mittelständischen Personenschifffahrt, Mitglied im VSM zu werden. 2022 konnte der VSM insgesamt 20 neue Mitglieder gewinnen. Zusammen mit den jetzt im VSM organisierten fünf Verbänden vertreten wir damit die Interessen von über 800 maritimen Unternehmen.

Neben der Interessensvertretung gegenüber Öffentlichkeit, Politik und Verwaltung zählen vielfältige Serviceangebote zu den Dienstleistungen des Verbands. Die Center of Maritime Technologies gGmbH unterstützt die Mitgliedsunternehmen in zahlenreichen F&E Projekten auf europäischer und nationaler Ebene. Sachspezifische Fortbildung bot die VSM-Akademie auf fünf Veranstaltungen in 2022 an und unter der Dachmarke GeMaX, der German Maritime Export Initiative, wurde inzwischen zum dritten Mal erfolgreich das B2B-Speeddating-Format BuyBlue mit über 100 Teilnehmern und fast 500 „Dates“ durchgeführt. Mehrere geförderte Geschäftsanbahnungsreisen und vielfältige internationale Messe-Aktivitäten runden das Dienstleistungsangebot für unsere Mitglieder ab.

Das große Branchenhighlight des Jahres war jedoch die SMM, die nach Corona-Pause endlich ihr 30. Jubiläum nachholen konnte. Während der SMM wurde Hamburg auch 2022 wieder für eine Woche zum Zentrum der Schiffbauwelt. Dass dies gelingt, ist nicht nur dem engagierten Einsatz des großartigen Teams der Hamburg Messe zu verdanken, sondern auch Ausdruck einer innovativen und leistungsfähigen Industrie hierzulande, der es immer wieder gelingt, die Technologieführerschaft zu verteidigen. Das ist der Auftrag, für den wir uns auch in 2023 ins Zeug legen werden!